Mensch, Rüdiger! Roman.
Sven Stricker, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 18. August 2017
Amüsant, mitreißend, traurig, spannend - und äußerst liebenswürdig
Rüdiger ist schmal, klein, langweilig und außerdem gerade vierzig geworden. Vier gute Gründe, um depressiv zu werden, was in Rüdigers Fall nicht mehr nötig ist, denn er leidet längst unter einer heftigen Depression. Doch damit nicht genug: An seinem Geburtstag wird er von Frau und Kindern weitgehend ignoriert, die verhassten Schüler traktieren ihn - Rüdiger ist Lehrer, eine dramatisch falsche Berufswahl -, und anschließend, nach der verfrühten Heimkehr, findet er im eigenen Ehebett Florentin vor, der da eigentlich nicht hingehört. Oder doch, wie Rüdigers Frau meint, und zwar seit vier Jahren. Florentin ist im Gegensatz zu Rüdiger groß, gut aussehend und schlagfertig. Außerdem backt er immer den Apfelkuchen, den Rüdiger regelmäßig von seiner Frau zum Geburtstag bekommt.
Tom jobbt im Supermarkt an der Kasse, wo er genervten Leuten unaufhörlich die nervtötende Frage stellen muss, ob sie Payback-Karten besitzen, aber er hört nie ein Ja, sondern nur das übliche, unhöfliche Gemurre. Wenn Tom nicht nach Rabattkarten fragt, hockt er vor seinem Laptop und versucht, einen zweiten Roman zu schreiben, was aber einfach nicht gelingen will. Der erste Roman liegt viele Jahre zurück - und das Buch war nur aufgrund eines mittelgroßen Skandals mittelmäßig erfolgreich. Tom hat Migräneattacken. Er sieht immerhin ganz okay aus, geht aber seit Jahren mehr oder weniger regelmäßig in eine Selbsthilfegruppe Suizidgefährdeter. Tom ist antriebslos, sein Leben hat keine Perspektive. Humor und Selbstbewusstsein sind ihm längst ersatzlos abhandengekommen.
An diesem Tag ist für beide Männer, die sich bislang nicht kennen, das bisschen Zuviel erreicht, das nötig ist, um eine Vielleicht-Frage ausnahmsweise - oder endlich, je nach Sichtweise - mit Ja zu beantworten. Sie fahren zur Lembachtal-Brücke, dem lokalen Hotspot der Selbstmörder. Und treffen sich dort, sitzen quasi nebeneinander am Abgrund. Nach einigem Hin und Her beschließen sie, doch nicht sofort zu springen, sondern die Entscheidung bis zum Ende der Woche zu vertagen.
Die folgenden fünf Tage werden ziemlich überraschend, abenteuerlich, anstrengend, zuweilen amüsant, manchmal aber auch recht traurig. Die Frage, wozu man leben sollte, was das Leben aus- und lebenswert macht, steht über, hinter, neben und sogar unter allem.Nach der generalisierten Angststörung in "Sörensen hat Angst" ist es nun die Depression, die Strickers Hauptfiguren von den vermeintlich gesunden Normalos unterscheidet, wobei dieser Unterschied unterm Strich erschütternd gering ist. Vor allem die ganz wunderbaren Dialoge zeigen eindringlich, wie dicht eine positive und eine negative, eine optimistische und eine pessimistische Antwort auf dieselbe Frage nebeneinanderliegen - wie klein also der Schritt möglicherweise ist, der von der lebensbejahenden Grundhaltung zum selbstzerstörerischen Gegenteil führt. Und hat man erst einmal damit angefangen, nur noch die schlechten Zeichen zu sehen, sich in seine ganz persönliche Verschwörungssteppdecke einzuwickeln, hört es von selbst nicht mehr auf. Diese grundsätzlich recht verrückte Welt da draußen ist auch nicht eben hilfreich.
Manchmal agiert der Zufall ein bisschen zu intensiv in diesem Buch, und Sven Stricker ist in sein eigenes Personal - das gilt für alle, bis zur unscheinbarsten Nebenfigur - so gründlich verliebt, dass er kaum dazu in der Lage ist, ihm erheblich wehzutun. Aber das ist in Ordnung, denn das Personal dieses Romans ist auch völlig hinreißend, von der dicken Francesca über die ständig heulende alte Frau Bormann bis zum nörgelnden Wohnmobil-Einsiedler, dem die beiden potentiellen Selbstmörder beinahe aufs Dach springen. Die Erzählweise ist bezogen auf die Schwere der Thematik manchmal ein bisschen zu leicht, fast ein wenig naiv, möchte man meinen, aber hinter dieser fast-naiven Leichtigkeit verbirgt sich die Antwort auf die Frage, um die es geht, und deren Beantwortung am Ende, zugegeben, nicht besonders überrascht. Aber der Weg dorthin ist ein literarisches, unterhaltsames, kluges und sehr einfühlsames Vergnügen, mischt feinen Witz mit hochklassigen, lebensechten Dialogen, und bei all dem gerät nie aus dem Blick, wie bitter das Schicksal sein kann, und wie schwer es ist, es wieder loszuwerden.
Mensch, Sven. Toll!
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99
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